Grüß Gott liebe Hettemer,
bei der Recherche für unsere Familiengeschichte im Jahre 2010 war ich auf Ihre Seiten gestoßen. Sie waren damals so freundlich, uns ein Dokument aus dem Einwohnermelderegister von Hettingen (mit den Ordnungszahlen 399-402) zu besorgen, das die Ankunft unserer Großeltern, Tante und Mutter in Hettingen am 05.08.1946 nachwies. Wie Ihnen bereits mitgeteilt, ist unsere Mutter am 28.01.2015 verstorben, was Sie auch im Heimatbrief abgedruckt hatten.
Unsere Mutter, Anna (Anni gerufen) Frank, geb. Felch, kam 1946 mit den Eltern Andreas Felch und Anna Felch und Tochter Gerlinde aus Oberwalddorf (Sudetenland) von Seckach (Teufelsklinge) nach Hettingen. Sie sind für kurze Zeit im Haus der Familie Meierschmied an der Alten Buchener Straße untergebracht worden.
Ende 1946 zog man in das Haus von Marie Henk, „Henkemarie“ genannt, in die Linsen-gasse. Oma und Opa kauften später in der Talgasse Nr. 1 eine Haushälfte, wo sie fortan wohnten.
Meine Tante Gerlinde heiratete später Bruno Schaefer aus Hettingen, der bei Hollerbachs Konditor gelernt hatte und später ein Lebensmittelgeschäft in Hettingen betrieb.
Vielleicht haben Sie für diesen, den nächsten oder übernächsten Heimatbrief Interesse auf einen Rückblick auf die Ankunft von Heimatvertriebenen aus dem Sudetenland in Hettingen im Jahre 1946. Ich füge den Text als word.doc bei. So haben Sie die Möglichkeit ihn zu kürzen oder anders zu redigieren.
Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Helmut f. Frank
1946 - Geschichte einer Vertreibung
Die Vertreibung der Familie Felch aus ihrer Heimat Oberwalddorf 1946. Zusammen-gestellt von Helmut F. Frank, Bielefeld 2016.
Der 80. Geburtstag unserer Mutter im Jahre 2011, sie starb ganz plötzlich am 28.01.2015 in Mannheim, wo sie wohnte, war der Anlass ihre Erzählungen als Zeitzeugin einmal aufzuzeichnen. Von unserer Verwandtschaft konnte uns nur noch Tante Gerlinde, Mutters jüngere Schwester, zu Fragen Auskunft geben – Opa Andreas und Oma Anna sowie Tante Marie und Onkel Georg, die es noch hätten wissen können, sind schon vor langer Zeit gestorben.
Opa Andreas Felch wurde am 11. November 1903 in Murchowa, Sudetenland, geboren und ist dort aufgewachsen. Das Dörflein wurde 1539 erstmals erwähnt und besaß 1587 bei der Herrschaft Bischofteinitz 4 Höfe, 1789 12 Nummern, 1839 17 Häuser mit 89 Einwohnern, 1913 17 Häuser mit 106 Bewohnern, 1939 23 Häuser mit 90 Einwohnern. Um 1930 heiratete er Anna, geborene Sokoll aus Linz (Tschechoslowakei). Sie kauften sich in Oberwalddorf ein Haus mit der Hausnummer 37, wo sie bis zu ihrer Vertreibung auch wohnten. Später wurde es durch dt. Besatzungsbehörden in Nr. 8 geändert.
Omas Tochter Marie, geb. am 8.7.1926, aus erster Ehe, war die älteste von vier Geschwistern. Drei Kinder wurden in der Folgezeit geboren: Anni am 25. Juni 1931; Wenzel 1936 und Gerlinde am 20. Dezember 1941. Wenzel muss schon etwa 11 Monate nach seiner Geburt um 1936/37 verstorben sein.
Das kleine Dorf Oberwalddorf, knapp 3 km südlich von Bischofteinitz gelegen, im Volksmund auch Gänsbühl genannt, wurde im Jahre 1791 vom Teinitzer Magistrat ge-gründet und zählte 1913 gerademal 26 Häuser. Es war immer nach Bischofteinitz ein-gemeindet, und die Seelenzahl der Bewohner von Oberwalddorf und dem Nachbardorf Unterwalddorf betrug zusammen 176. In dieser friedlichen Idylle des Sudetenlandes wuchs unsere Mutter auf. Bis 1946.
Obwohl die meisten Sudetendeutsche in den Sudetenländern geboren wurden und sich nie etwas zu Schulden haben kommen lassen, wurden sie aus ihrer Heimat vertrieben - nur weil sie Deutsche waren. Im Spätherbst 1945 wurden in der Tschechoslowakei sogenannte Aussiedlungslager als Sammel- und Quarantänelager eingerichtet. Insgesamt 107 Lager, davon 75 allein in Böhmen. In diesen Lagern wurden die Vertriebenen-transporte zusammengestellt, wobei ein einzelner Transport etwa 1.200 Personen umfasste. Die Menschen mussten auf langen Märschen zu Fuß in diese Lager gehen. Dabei waren sie verpflichtet weiße Armbinden mit einem „N“ Nemec = Deutsche aufgedruckt zu tragen. Auf diesen Märschen ging es gewalttätig zu. So mancher der bewaffneten Begleiter schlug mit dem Gewehrkolben grundlos auf die Menschen ein. Der „Brünner Todesmarsch“ im Juni 1945 ging als besonders grausame Vertreibungsaktion der Tschechen in die Geschichte ein. Tausende Sudetendeutsche verloren dabei ihr Leben. Gerademal 20 kg Gepäck durfte jeder mit sich führen. Alles andere an Eigentum musste zurückbleiben. Kam man dann völlig erschöpft in diesen Sammellagern an, erschrak man über deren schmutzigen Zustand und die Enge, weil die Baracken überfüllt waren und zudem verschlossen des Nachts wurden. Tags drauf verfrachtete man die Menschen in Güterwagen, in denen es auch nicht besser aussah.
Am 25. Januar 1946 traf der erste Sudetendeutsche Vertriebenentransport aus Budweis im Grenzdurchgangslager Furth im Wald in der amerikanischen Besatzungs-zone ein. Dieser Transport ging dann noch weiter nach Würzburg in Unterfranken. Von Januar bis November 1946 wurden über 1.000 Eisenbahnzüge mit durchschnittlich je 1.200 ausgeplünderten Sudetendeutschen Männern, Frauen und Kindern vollgestopft und in das besetzte und zerstörte Deutschland verbracht.
In einem dieser Vertriebenentransporte kam auch unsere Familie 1946 schließlich in Seckach an – man hatte sie aus ihrer angestammten Heimat, wo sie geboren worden waren, von heute auf morgen vertrieben.
Hettingen - Aufnahme der Flüchtlinge und Heimatvertriebene
„Herab von der Kanzel, hinein in die Not”. Mit diesen Worten forderte der Pfarrer von Hettingen, Heinrich Magnani, seine Mitbrüder und alle, die politische Verantwortung trugen
auf, der großen Not zu begegnen, die auf die Gesellschaft zukam. Über 22.000 Flüchtlinge und Vertriebene kamen in der Zeit vom 26. Februar bis 16. Oktober 1946 im Landkreis Buchen an. Die 20 Transporte, mit denen in unregelmäßigen Abständen zwischen 1.000 und 3.300 Personen am Bahnhof in Seckach ankamen, wurden alle von Pfarrer Heinrich Magnani in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Caritas-Kreisverbandes Buchen empfangen und in die Teufelsklinge geleitet. In dieser Waldschneise zwischen Seckach und Zimmern standen Baracken, die ehemals der halbmilitärischen Bautruppe „Organisation Todt” als Unterkunft dienten, die im nahe gelegenen Gipswerk Seckach untertage kriegswichtige Güter produzierten. Diese Baracken standen leer und waren notdürftig durch den Landkreis Buchen eingerichtet. Hier verblieben die Vertriebenen einige Zeit und wurden nach der Registrierung den einzelnen Gemeinden des Landkreises zugeteilt.
Nach der Ankunft in der Teufelsklinge und der Zuteilung der Quartiere wurde jeder Transport zu einem Empfangsgottesdienst im Freien eingeladen. Am großen, aus Eichen-stämmen gezimmerten, Kreuz gab Pfarrer Magnani den Flüchtlingen und Heimat-vertriebenen zwei Versprechen:
Es wird ungefähr gegen Ende Juli 1946 gewesen sein, als unsere Familie mit Opa Andreas, Oma Anna, Töchter Anni und Gerlinde und zusammen mit vielen anderen Vertriebenen deutschen Boden betraten. Tochter Marie war als 19jährige bereits 1945 nach Waldmünchen gegangen und lebte seitdem dort.
Ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager in Seckach diente als erster Aufenthaltsort. Hier verbrachte man zehn bis zwölf Tage, bis man schließlich im August nach Hettingen bei Buchen „verlegt” wurde. In Hettingen und auch anderswo waren die Haus- und Hofbesitzer zur Aufnahme von Flüchtlingen zwangsverpflichtet worden. Unsere Familie ist für kurze Zeit im Haus der Familie Meierschmied an der Alten Buchener Straße untergebracht worden. Die Dörfer in dieser Region waren in der Regel vor den Bombenangriffen weitestgehend verschont geblieben, jedoch herrschte große Wohnungsnot. So fand man in einem unversehrten Haus ein Dach über dem Kopf und war sehr froh darum.
In Hettingen hatte Pfarrer Magnani jede Möglichkeit der Arbeitsbeschaffung gefördert. Eine Handspinnerei und -weberei ließ sich in Hettingen nieder. Mit den Caritas-Werkstuben entstanden eine Schreinerei und eine Schneiderei. Die Schaffung von Verdienst-möglichkeiten hatte, ebenso wie die Abhilfe der Wohnungsnot, oberste Priorität. So richtete Pfarrer Magnani in Hettingen eine Schreinerei, Schlosserei, und Schneiderei ein, die jeweils mit Meister, Gesellen und Lehrlingen aus den Reihen der Heimatvertriebenen besetzt wurden.
Opa Andreas fand sofort in Mannheim beim Tiefbau Arbeit, die es ja genug gab, pendelte an den Wochenenden zwischen Mannheim und Buchen und konnte so die Familie ernähren.
Tochter Anni verdiente sich ihr Geld vorerst mit Heimarbeiten. Als 16jährige wollte sie eine Lehre als Schneiderin beginnen, fand jedoch keine Lehrstelle. So arbeitete sie saisonweise in einer Hettinger Konservenfabrik, welche sich hinter dem alten Weg zum Sportplatz befand. Ende 1946 zog man in das Haus von Marie Henk, „Henkemarie” genannt, in die Linsengasse. Oma und Opa kauften später in der Talgasse Nr. 1 eine Haushälfte, wo sie fortan wohnten.
1949 ging Tochter Anni auf Vermittlung von Pfarrer Magnani nach Mannheim-Sandhofen in eine Bäckerei arbeiten, wo sie auch für etwa ein Jahr gewohnt hat. Ab 1950 arbeitete sie auf dem Waldhof beim „Krämer“ in der Gaststätte „Zum neuen Neckarpark” in der Küche. Von 1951 bis 1952 fand sie eine Anstellung als Verkäuferin in den Mannheimer Quadraten in einem Seifengeschäft in G 3. 1952 heiratete sie Friedrich Vincenz Frank und hütete von da an das Haus, weil sich Nachwuchs einstellte, in der eigenen Wohnung in der Schimperstraße 17. Am 7. September 1952 erblickte Sohn Helmut das Licht der Welt. Am 11. April 1954 folgte dann Tochter Irene. Am 1. September 1955 zog die Familie in einen Wiederaufbau in der Großen Merzelstraße 8 ein, die heute Reichskanzler-Müller-Straße heißt.
Nach Jahren der Kindererziehung, arbeitete sie von 1970 an als Verkäuferin bei Woolworth in T 1; später wurde sie dort Aufsicht bis zu ihrem Rentenalter im Jahre 1991. Vater arbeitete ab 1952 bis zu seiner Rente im Jahre 1970 als Angestellter bei der Stadt Mannheim im Ausgleichsamt, das sich später am Werderplatz befand. Er starb am 29.11.1979.
Tochter Gerlinde war 1946 in Hettingen geblieben und besuchte dort bis 1956 die Schule bis zur 8. Klasse. Von 1956 bis 1959 ging sie im Buchener Kaufhaus Seitz als Verkäuferin in die Lehre. Nach der Lehre wohnte Gerlinde bei uns in Mannheim und ging hier im Kaufhaus Hansa in E 1 als Verkäuferin zur Arbeit. Tante Gerlinde heiratete am 27.8.1960 den Bäcker und Konditor Bruno Schaefer aus Hettingen und zog mit ihm in eine Wohnung über dem Kaufhaus Aretz in der Waldhofstraße in der Mannheimer Neckarstadt. Gerlinde bekam am 21. Juli 1961 ihre Tochter Andrea und am 24. November 1962 ihren Sohn Thomas. Um 1963/64 zog sie mit ihrer Familie wieder nach Hettingen und sie wohnten zusammen bei ihrer Mutter in der Talgasse Nr. 1. In Hettingen betrieben sie ab 1965 ein Lebensmittelgeschäft an der Neuen Buchener Straße/Ecke Römerkastellstraße. 1975 bauten sie in Seckach ein Haus und zogen dort am 22. November ein. Gerlindes Mann, unser Onkel Bruno, verstarb am 29. März 1999.
Tochter Marie, die älteste der Geschwister, heiratete 1947 in Blaufelden den Uhr-machermeister Georg Schürrer, den alle Schorsch nannten, und wohnte von da an in Waldmünchen in der Hammerstraße 10. 1948 bekam sie ihren ersten Sohn Helmut, 1952 folgte Georg, Schorschl genannt. Sohn Helmut machte 1966 seinen Führerschein und kam am gleichen Tag als Beifahrer mit zwei weiteren Freunden in einem Unfall ums Leben.
Opa Andreas verstarb nach einem Unfall am 19. Juli 1968 während eines Kranken-hausaufenthaltes in Buchen. Oma zog etwa 1977 zu ihrer Tochter Marie nach Wald-münchen und starb dort 1980. Marie folgte ihr 1999, ihr Mann Georg, Schorsch, starb 2006.
Nach der Wende 1989 und dem Fall des Eisernen Vorhangs besuchten wir während eines Urlaubs in Waldmünchen mit unserer Mutter Anni ihr Heimatdorf. Der Anblick war enttäuschend – alles war heruntergekommen und verwahrlost. Das einstige Elternhaus war unbewohnt, Fenster und Türen herausgerissen oder zerstört und wie der Garten zugewuchert. In Bischofteinitz (Horšovský Týn), der Kreisstadt, machte man mit Farbe erste Anstrengungen die Stadt zu verschönern.
Kontakte gibt es nach Oberwalddorf nicht mehr. Auch die meisten Kontakte zu den Menschen, die zusammen mit unserer Familie 1946 nach Hettingen kamen, bestehen nicht mehr.
Wenn man heute vom Sudetenland spricht, meint man umgangssprachlich ein Gebiet, das nach 1938 von Hitlerdeutschland besetzt – heim ins Reich – geholt worden ist. Das Sudetenland ist eine vorwiegend nach 1918 gebrauchte Hilfsbezeichnung für ein Gebiet im tschechischen Teil der damaligen Tschechoslowakei, in dem überwiegend Deutsche nach Sprache und Herkunft lebten.
Wir, ihre Kinder, fingen an, in ihrer Vergangenheit zu stochern, in Alben zu blättern, sie zu befragen: „wie das war, als sie mit Oma, Opa und Gerlinde ihre Heimat verlassen mussten. Fragen zu stellen, das hatten wir auch schon in früheren Jahren getan. Sie hatte es uns in den vergangen Jahren zwar immer wieder quasi ausschnittsweise erzählt. Es ist jedoch nie aufgeschrieben worden. Irgendwann würden diese Erlebnisse in Vergessenheit geraten, wenn wir es nicht endlich angingen, würden sie für uns verloren sein. Daraus ist dann zu ihrem 80. Geburtstag 2011 ein „Erinnerungsbuch“ für jenen Zeitraum ihres Lebens geworden, der unter dem beschämenden Begriff Vertreibung der Sudetendeutschen historische Wahrheit geworden ist.